Unser Wirtschaftssystem wird in 20 Jahren ein ganz anderes sein

von

TÜV Süd, 2018 (c)wildbild

Die Etablierung kreiswirtschaftlicher Systeme nimmt in politischen und öffentlichen Diskussionen einen immer höheren Stellenwert ein. Initiativen wie das EU-Kreislaufwirtschaftspaket und der European Green Deal haben einen noch nie dagewesenen Einfluss auf die Entwicklung der europäischen und in weiterer Folge auch globalen Ökonomie. Kreislaufwirtschafts-Experte Dr. Robert Hermann, Geschäftsbereichsleiter Green Energy & Sustainability bei TÜV SÜD Österreich, berichtet im Interview über aktuelle Entwicklungen und Perspektiven auf dem Weg zu einem zukunftsfähigen und nachhaltigen Wirtschaftssystem.

Ghezzo: Wie beurteilen Sie Strategien wie den European Green Deal? Was kann Kreislaufwirtschaft zur Lösung europäischer und globaler Umwelt- und Ressourcenprobleme tatsächlich leisten?

Hermann: EU-weite Strategien zur Förderung kreislaufwirtschaftlicher Systeme und mehr Nachhaltigkeit sind ein wesentlicher Fortschritt, um europäische und globale Herausforderungen zu lösen. Der Schutz des Klimas ist die wohl größte Aufgabe unserer Zeit, wir müssen jetzt handeln um auch für nachfolgende Generationen einen lebenswerten Planeten und Wohlstand zu sichern. Entsprechende Strategien schaffen durch rechtliche Rahmenbedingungen das Fundament zur Realisierung von konkreten Angeboten und Projekten auf dem Weg zur nachhaltigen Transformation von Wirtschaftssystemen.

Damit Kreislaufwirtschaft gelingt, benötigt es ganzheitliche Konzepte. Europa hat das Potenzial, mit Best-Practice Modellen eine globale Vorreiterrolle einzunehmen. Wir geben gewissermaßen die Richtschnur vor, an der sich auch andere Regionen der Erde orientieren können. Damit das gelingt, gilt es innerhalb der EU an einem gemeinsamen Strang zu ziehen und gleichzeitig die unterschiedlichen Rahmenbedingungen der einzelnen Mitgliedsstaaten zu berücksichtigen. Die Europäische Union gibt zwar Richtlinien vor, für die Umsetzung ist es jedoch von Bedeutung, wie diese in nationales Recht gegossen werden.

Auf Ebene der Mitgliedstaaten sind Umsetzungsmöglichkeiten durch unterschiedliche technische und wirtschaftliche Voraussetzungen definiert. Es gibt Staaten, die als Vorreiter agieren können und andere, bei denen noch Aufholbedarf besteht. Schlussendlich geht es um die Frage, wie wir alle Interessen unter einen Hut bekommen und langfristig möglichst einheitliche Strukturen schaffen.

Aus meiner Sicht gibt es für Europa – sowohl im Sinne des Klimaschutzes wie auch zur Weiterentwicklung der Wirtschaft – langfristig keine Alternative zu funktionierenden kreislaufwirtschaftlichen Systemen. Die Art wie wir leben, konsumieren und wirtschaften wird sich massiv verändern. Das ist selbstverständlich mit Herausforderungen verbunden, bietet aber auch große Chancen. Diese gilt es zu nutzen und dafür müssen jetzt die Weichen gestellt werden!

Ghezzo: Sie haben ganzheitliche Konzepte angesprochen – ist dieser Ansatz Ihrer Einschätzung nach bei allen maßgeblichen Akteuren angekommen?

Hermann: Die Notwendigkeit für integrierte Maßnahmen ist umfassend bekannt, darüber herrscht grundsätzlich auch breiter Konsens. Nichtsdestotrotz ist die Europäische Union ein Verbund souveräner Staaten. Es bestehen unterschiedliche Niveaus in den Ländern, wie im Sinne der Circular Economy Ressourcen im Kreislauf geführt werden können.

Dies zu lösen, wird auf europäischer Ebene keine einfache Aufgabe, sie ist aber mit Sicherheit machbar. Am Ende müssen diese vielfältigen Niveaus jedenfalls ausgeglichen werden.

Ghezzo: Was sind nun die notwendigen Schritte in Richtung nachhaltiger Zukunft?

Hermann: Dahingehend gibt es nur einen Weg, den der EU-Green Deal bzw. das EU-Kreislaufwirtschaftspaket forcieren: Die Ressourcennutzung in Kreisläufen muss entlang der gesamten Wertschöpfungskette, also bei der Beschaffung von Rohstoffen, Produktion, Konsum, Wertstoffsammlung und Wertstoffaufbereitung gedacht werden. Das beginnt bei der Primärrohstoffgewinnung, wo die EU mit Sicherheit Aufholbedarf hat, und endet bei der Schaffung von funktionierenden Sekundärrohstoffmärkten. Wiedergewonnene Rohstoffe müssen in ausreichender Qualität und Quantität für die produzierende Industrie zur Verfügung gestellt werden. Gleichzeitig dürfen Rezyklat Hersteller nicht auf ihren Produkten sitzen bleiben, wie wir das zu Beginn der Coronapandemie durch die Entwicklung des Ölpreises erlebt haben.

Zudem muss noch zuvor angesetzt werden, indem Produkte lange genutzt werden. Dafür sind politische Vorgaben rund um Reparatur, Weiter- beziehungsweise Wiederverwendung unerlässlich. Gerade im Bereich der Batterien gibt es aktuell eine große Dynamik. Hier liegen erste Maßnahmenpläne vor, in welchem Ausmaß Mindesteinsatzquoten bis 2030 umzusetzen sind.

Ghezzo: Wo sehen Sie die größten Potenziale und welche Branchen sind Ihrer Meinung nach Vorreiter bei der Umsetzung von Kreislaufwirtschaft?

Hermann: Sehr spannend und zentral ist der Kunststoffbereich. Allein in Europa werden jährlich ca. 51 Millionen Tonnen Kunststoff in Umlauf gebracht. Davon werden ca. 40 Prozent im Packaging verwendet, wobei in diesem Segment vier Kunststoffarten dominieren. Unbestritten ist, dass die Kunststoffindustrie viel unternimmt, um Herausforderungen zu meistern, die vielfältigen Einsatzmöglichkeiten und Arten des Kunststoffs jedoch technisch auch noch ungelöste Fragen mit sich bringen. Um komplexe Kunststoffe wieder wirtschaftlich sinnvoll in Anwendung zu bringen, sind weitere Anstrengungen nötig.

Was viele nicht wissen: den größten Abfallstrom bilden Abbruchmaterialien, die im Sinne kreislaufwirtschaftlicher Systeme genauso gesammelt, sortiert, getrennt und aufbereitet werden müssen. Doch auch in diesem Bereich gibt es momentan viele Bestrebungen von großen Playern innerhalb der Branche auf der Suche nach nachhaltigen und alternativen Lösungen. Es handelt sich dabei um langfristige Prozesse, die nun gestartet werden. Ich erwarte in Zukunft eine hohe Dynamik in diesem Segment – es ist aber noch ein weiter Weg, der ein Zusammenspiel aller Beteiligten erfordert.

Ghezzo: Im öffentlichen Diskurs wird Kreislaufwirtschaft vor allem in Zusammenhang mit Klimazielen und Nachhaltigkeit behandelt. Wie beurteilen Sie Effekte der Kreislaufwirtschaft auf das Wirtschaftssystem und die Versorgungssicherheit?

Hermann: Insgesamt bietet die Kreislaufwirtschaft die Chance, mehr Versorgungsautonomie für Europa zu generieren, wobei die jeweiligen Produktionsströme eine wesentliche Rolle spielen. Im Green Deal stehen vor allem Kunststoffe, Lebensmittel, kritische Rohstoffe, Abfälle aus Infrastruktur – zum Beispiel Bauabfälle – sowie biobasierte Produkte im Fokus. Bei all diesen Themen hat Recycling zwar einen wichtigen Einfluss, kann für sich aber keine Versorgungsautonomie herstellen.

Ich rechne damit, dass es unser derzeitiges Wirtschaftssystem in 20 Jahren in dieser Form nicht mehr geben wird. Verbraucheransprüche ändern sich, das führt auch zu direkten Anpassungen in der Produktionswirtschaft. Ich sehe in dieser Zeit der Transformation ein Zusammenspiel aus regulatorischen Vorgaben und Marktmechanismen als Treiber von Veränderung.

Ghezzo: Oft werden Faktoren wie Kosten und Komplexität als Hemmnisse angeführt – wie sehen Sie das?

Hermann: Schon heute gibt es durchdachte und wirkungsvolle Lösungskonzepte. Die Komplexität ergibt sich aufgrund unterschiedlicher Rahmenbedingungen für den Roll-out. Dabei ist das Zusammenspiel von Politik und Wirtschaft essenziell. Ein Beispiel ist das nun beschlossene Einwegpfandsystem in Österreich: Die Einführung geht natürlich mit Herausforderungen einher, ist aber in der Sache selbst nicht komplex.

Selbstverständlich muss man festhalten: je mehr Länder, Unternehmen, Stakeholder in einen Prozess eingebunden sind, desto mehr Interessen müssen gebündelt werden. Dadurch nimmt Komplexität zu. Herausforderungen in der praktischen Umsetzung dürfen jedoch niemals ein Argument sein, warum notwendige Projekte nicht angegangen werden. Die Geschichte der Menschheit ist eine Geschichte der Veränderungen wie der gesellschaftliche und technologische Fortschritt beweist.

Ghezzo: Kommen wir von der internationalen Ebene zurück nach Österreich. Sind die heimischen Unternehmen für die Zukunft gerüstet?

Hermann: Das Bewusstsein in Bezug auf die Notwendigkeit zur Etablierung kreislaufwirtschaftlicher Systeme ist branchenübergreifend vorhanden. Innerhalb der einzelnen Wirtschaftssektoren ist klar, an welchen Stellschrauben gedreht werden muss. Sei es im Bereich der Energiewirtschaft, der Umstellung von Produktionsprozessen etc. Zudem bemerken wir eine hohe Bereitschaft, in Innovationen zu investieren, wobei dies natürlich stark von den wirtschaftlichen Voraussetzungen der jeweiligen Unternehmen abhängig ist und öffentliche Förderungen zur Unterstützung notwendig sein werden.

Beispielsweise gab es heuer zum ersten Mal eine Ausschreibung der Österreichischen Forschungsförderungsgesellschaft (FFG) zum Thema FTI Initiative Kreislaufwirtschaft. Das Interesse war enorm, nicht alle der vielen hochinteressanten Projekte konnten schlussendlich berücksichtigt werden. Das zeigt jedenfalls deutlich, dass seitens der Wirtschaft und der Forschung massives Interesse besteht, aktiv zu funktionierenden kreislaufwirtschaftlichen Systemen beizutragen.

Ghezzo: Wie geht TÜV SÜD als weltweit tätiges Unternehmen in unterschiedlichen Märkten und Segmenten mit weltweiten sowie europäischen Herausforderungen um?

Hermann: Als global agierendes Unternehmen mit Niederlassungen in den verschiedensten Ländern müssen wir uns an Anforderungen und Regulatorien der Kunden vor Ort orientieren. Es ist schwierig, allgemeine Circular Economy-Dienstleistungen anzubieten, da Umweltvorgaben, Standards und Zertifizierungen je nach Region sehr unterschiedlich sein können. Auch der öffentliche Druck seitens der Bevölkerung hin zu rechtlichen Vorgaben spielt eine wichtige Rolle. Dieser ist naturgemäß von Region zu Region sehr unterschiedlich. Global einheitliche Standards für die Kreislaufwirtschaft existieren noch nicht im notwendigen konkreten Detailierungsgrad.

Dennoch haben wir den Anspruch, praxisnahe Ansätze im Bereich der Kreislaufwirtschaft beziehungsweise im Umweltschutz mit unseren Kunden in den jeweiligen Ländern zu definieren. Und es gibt selbstverständlich immer wieder Projekte, die aufgrund ihrer Vielschichtigkeit nur durch unser weltweit gebündeltes Knowhow gelöst werden können – hier hilft die Vielfalt als international erfolgreiche Gruppe.

Ghezzo: Welche Leistungen bietet TÜV SÜD in Österreich im Segment Umweltschutz und Kreislaufwirtschaft an?

Hermann: Im energetischen Bereich sind wir österreichischer Vorreiter beim Thema Wasserstoff. Dahingehend unterstützen wir viele Pilotprojekte sowie Unternehmen bei Genehmigungsverfahren, zertifizieren grünen Wasserstoff sowie dazugehörige Anlagen- und Sicherheitstechnik. Auch die Überprüfung und Zertifizierung von Wasserstofftankstellen ist ein integraler Bestandteil unseres Leistungsportfolios.

Außerdem prüfen wir im Rahmen der Ökostrom Produktzertifizierung alle wesentlichen Schritte, angefangen von der Erzeugung bis hin zur Lieferung an die Kundinnen und Kunden dahingehend, ob diese mit festgelegten Standards beziehungsweise mit den konstatierten Angaben des Anbieters übereinstimmen.

Geht es um ganzheitliche Analysen hinsichtlich verursachter CO2 -Emissionen, sei es durch einzelne Produkte oder in Hinsicht auf das ganze Unternehmen, erstellen wir Carbon Footprint-Bilanzen, um alle tatsächlichen und zu erwartenden Emissionen abzubilden. Diese gliedern sich dementsprechend in „Product Carbon Footprint“-Bilanzen (PCF) beziehungsweise „Corporate Carbon Footprint“-Bilanzen (CCF).

Im Bereich der Abfallwirtschaft unterstützen wir Unternehmen bei der Entwicklung und Optimierung von recyclingfähigen Verpackungen. Dieses Segment wird auf nationaler sowie europäischer Ebene immer wichtiger.

TÜV SÜD ist Partner des Ghezzo Immobilientag

Zurück