Das Gebäude verschmilzt mit seiner Umwelt: Transformation im Energie- und Ressourcenkreislauf und Change durch Digitalisierung
So viel muss sich in der Bau- und Immobilienbranche verändern, wollen wir den Klimawandel verlangsamen, mit dessen Folgen umgehen und soziale Weiterentwicklung und wirtschaftlichen Erfolg sichern. Klemens Marx vom AIT Center for Energy beschäftigt sich sowohl aus Forschungs-, als auch aus Praxissicht mit diesen Themen. Im Interview erklärt er aktuelle Trends und Visionen, stellt technische Lösungen vor und bringt internationale Beispiele.
Ghezzo: Dezentrale Energieerzeugung, Immobilien als Energielieferant und nicht Verbraucher, Energieautarkie: Vieldiskutierte Schlagwörter, aber nur wenig konkret umgesetzt? Was ist bereits technisch möglich, bzw. wo gibt es spannende Beispiele?
Marx: Wir erleben gerade eine Transformation des Energiesystems weg von der zentralen, nicht erneuerbaren Versorgung
Klemens Marx
hin zu dezentralen, erneuerbaren Energiesystemen mit einer Vielzahl von kleineren Energieproduzenten. Auf diesem Weg haben wir letztes Jahr (2020) erreicht, dass innerhalb der Europäischen Union die Stromproduktion durch fossile, nicht erneuerbare Energieträger, von erneuerbar produziertem Strom überholt wurde (vgl. Agora Energiewende and Ember (2021): The European Power Sector in 2020: Up-to-Date Analysis on the Electricity Transition). Beispiele auf kleiner Ebene kennen wir alle etwa im Einfamilienhausbereich, wo die Durchdringung von Photovoltaikanlagen (PV) massiv voranschreitet. Die Kombination einer PV-Anlage mit einem elektrischen Speicher und einem Wärmepumpensystem ist eine Möglichkeit, um lokale Energieautarkie zu erreichen und kann einen Beitrag zur Entlastung der Stromnetze leisten. Die Einzelkomponenten solcher Systeme sind grundsätzlich verfügbar, teilweise sogar als Gesamtsystem, wobei fortlaufend innovative Verbesserungen entwickelt werden. Ein Beispiel für so eine Entwicklung ist das laufende Projekt HYBUILD in dem, unter der Mitwirkung des AIT Center for Energy, ein Gesamtsystem aus Wärmepumpe, thermischer Speicher, Photovoltaik, Batteriespeicher mit einem Gleichstromnetz mit der Möglichkeit zur Netzeinspeisung von Strom entwickelt und demonstriert wird. Mit dem geplanten Ausstieg aus fossilen Energiesystemen in Gebäuden bis 2035 werden wir vermehrt solche Systeme im Einsatz sehen. Dies wird zu einem Anstieg des Stromverbrauchs führen, da Gas und Öl durch Strom ersetzt wird. Wir brauchen daher Lösungen, die es ermöglichen die lokal erzeugte Energie vor Ort zu nutzen und zu speichern.
Ghezzo: Die Herausforderung in solchen dezentralen, durch erneuerbare Energieproduktion geprägten Energiesystemen sind die Schwankungen in der Energieproduktion, beispielsweise durch Sonnen- oder Windenergie. Um die Energiebereitstellung mit dem Energieverbrauch in Einklang zu bringen, sind Speichersysteme unbedingt erforderlich.
Marx: Gebäude sind hier besonders interessant, wenn beispielsweise ihre Gebäudemasse durch thermische Bauteilaktivierung genutzt wird, um das Energiesystem, wenn erforderlich, zu entlasten. Auch weitere TGA (Technische Gebäudeausrüstung) Komponenten wie Warmwasserspeicher können netzdienlich eingesetzt werden. Für den Gebäudebetrieb können sich daraus wirtschaftliche Vorteile ergeben, wobei eine individuelle Betrachtung für den jeweiligen Einsatzfall notwendig ist.
In diesem Zusammenhang finde ich, neben vielen weiteren Beispielen, „Schoonschip Amsterdam“ im Norden von Amsterdam besonders spannend. Dort wird ein solches lokales Energiesystem im Realbetrieb in einer Hausbootsiedlung erprobt. Die Gebäude sind mit einer Abwasserwärmerückgewinnung, Wärmepumpe und Batteriespeicher ausgestattet. Die Anwohner*innen können mit Jouliette, ein Blockhain-basierter Token, Strom handeln. Für die Errichtung der Gebäude wurden, soweit möglich, nachhaltige Materialien genutzt.
Ghezzo: Welche Forschungsthemen beschäftigen Dich in diesem Zusammenhang gerade?
Marx: Wir beschäftigen uns unter anderem mit Fragestellungen wie ein Gebäude mit all seinen technischen Ausstattungen mit seiner Umwelt verschmelzen kann, wie die Technologieintegration sowohl technisch als wirtschaftlich optimal bewerkstelligt wird und welche digitalen Lösungen dafür notwendig sind. Besonders daran ist die Komplexität der Systeme und die multidimensionale Herausforderung Zur Lösung gehört beispielsweise die automatisierte, kostenoptimale Auslegung von Energiesystemen aber auch die Qualitätssicherung im Planungsprozess. Unter Qualitätssicherung verstehe ich hier Lösungen, die sicherstellen, dass das Gebäude den gestellten Anforderungen entspricht. Ein Beispiel ist hier der Energieverbrauch und eine digitale Lösung, die nahtlos in die Planung integriert ist und über den gesamten Planungsprozess hinweg dem Bauherrn oder den Planer*innen die Möglichkeit bietet die Planungsqualität hinsichtlich Energieverbrauch zu überprüfen. Neben dem Energiebedarf beschäftigen uns noch weitere Parameter wie das Flexibilitätspotential, das bedeutet wie gut ein Gebäude in der Lage ist auf Schwankungen in der Energieversorgung flexibel zu reagieren. Mit den neuen technischen Möglichkeiten ergeben sich auch wirtschaftliche Möglichkeiten wie Variantenrechnung sowie die Entwicklung und Bewertung von Geschäftsmodellen, womit wir uns am AIT Center für Energy im Bereich digitaler Gebäudetechnologien befassen.
Ghezzo: Kreislaufwirtschaft ist auch so ein Thema, das die Immobilienbranche mehr und mehr beschäftigt. Was gibt es dafür Möglichkeiten, die Immobilienunternehmen sofort umsetzen können?
Marx: Die Kreislaufwirtschaft in der Immobilienbranche wird uns, denke ich, noch länger intensiv beschäftigen. Besonders die Zeithorizonte, die wir hier berücksichtigen müssen, sind enorm und eine große Herausforderung. Ich denke aber auch, dass wir das Thema Kreislaufwirtschaft nicht end-of-pipe sehen dürfen, also was mache ich mit dem Gebäude, wenn es abbruchreif ist, sondern bereits, ganz im Sinne integraler Planung, von Beginn an mittdenken müssen. Wichtige Elemente sind hier die Betrachtung über den gesamten Lebenszyklus und das Abwägen von Möglichkeiten für die Änderungen in der Nutzung. Weiteres ist die Verwendung von ökologischen Materialien wichtig, also Materialien die besonders geringe, nicht erneuerbare Ressourcen binden bzw. geringe Auswirkung auf die Umwelt haben. Oder, so zu planen, dass die Konstruktionen einfach trennbar sind. Das bedeutet Verbindungen herzustellen die trennbar sind, indem man verschraubt, anstatt zu verkleben. Viele dieser Elemente können bereits heute bei der Planung eines Neubaus aber auch bei Renovierungen berücksichtigt werden. Es braucht dafür aber entsprechend ausgebildetes Personal, um kreislauffähige Gebäude zu errichten.
Ghezzo: Hat Corona dem Thema Nachhaltigkeit geschadet, oder es sogar beflügelt?
Marx: Zumindest kurzfristig hatte die Coronakrise, und die damit verbundenen Lockdowns sowie der reduzierte Flugverkehr, eine positive Auswirkung auf die Umwelt. So gibt es wissenschaftliche Abschätzungen, die von einem Rückgang der CO2-Emissionen im fast zweistelligen Bereich im ersten Halbjahr 2020 sprechen (vgl. Zhu et al. (2020): Near-real-time monitoring of global CO2 emissions reveals the effects of the COVID-19 pandemic. Nature Communications 11, 5172). Die Frage ist ob derartige Veränderungen auch nachhaltig sind. Corona hat in vielen Bereichen Entwicklungen, die ohnehin abgelaufen wären, beschleunigt. Dazu gehört alles rund um die Digitalisierung und die Akzeptanz von digitalen Lösungen. Homeoffice ist jetzt weit verbreitet und die Entwicklung in diese Richtung ist in vielen Bereichen nicht mehr umkehrbar. Ein reduzierter Pendlerverkehr hat hier sicherlich positive Effekte auf unsere Umwelt. Andererseits ist mit Corona der Wunsch nach einem „eigenen Fleckchen Grün“ für viele in den Fokus gerutscht und entsprechende Immobilien sind enorm gefragt. Ob und wie sich diese Nachfrage des Marktes mit einer nachhaltigen Entwicklung in Einklang bringen lässt, wird sich zeigen. Auch die ökonomische Situation der Volkswirtschaften wird einen starken Einfluss darauf haben, ob der aktuelle Trend hin zu nachhaltigen Gebäuden ungebrochen weiter geht.
Ghezzo: Integrale Planung ist schon seit meinen ersten Immobilienkonferenzen vor 20 Jahren eine Forderung um mehr Effizienz in den Bauprozess zu bekommen. Wie steht es aktuell damit?
Marx: Die integrale Planung kommt in der Baubranche an, aber es ist noch ein weiter Weg zu gehen bis sie weitgehend etabliert ist. Die öffentliche Hand nimmt hier gerade eine Vorreiterrolle ein. openBIM und die integrale Planung wird in vielen Fällen forciert, da die Vorteile, die sich beispielsweise in der Beschaffung oder im Betrieb der Immobilie ergeben, erkannt werden. Aus den Berichten von laufenden Projekten verspürt man das Momentum der Bewusstseinsbildung, was es für den Einsatz in der Praxis braucht. Das veränderte Mindset, weg von klassischen Projekten hin zum Arbeiten an gemeinsamen Lösungen ist notwendig und wird vielfach thematisiert. Aber eine große Herausforderung ist es, die Weichen bereits in einer sehr frühen Phase des Projekts zu stellen, indem die Schnittstellenproblematiken sowie die höheren Kosten diskutiert werden.
Für mich ist klar, die integrale Planung ist der nächste, logische, auch nicht mehr aufzuhaltende Schritt für die Baubranche, um effizienter und besser zu bauen. Allerdings ist sie ebenso eine Disruption der Branche, die Zeit braucht, um in sämtliche Bereiche vorzudringen. Eine steigende Anzahl an PropTech’s, die als Lösungsanbieter für die integrale Planung auftreten, sehe ich als Bestätigung dafür, dass sie an Fahrt aufnimmt und die Investoren zunehmend das Potential erkennen.
Zur Person:
Dr. Klemens Marx arbeitet am AIT Austrian Institute of Technology im Center for Energy im Bereich Digitale Gebäudetechnologien. Das AIT bietet im Rahmen der Auftragsforschung diesen Bereich umfangreiche Unterstützung für Bauherr*innen, Planer*innen und Betreiber*innen in allen Lebenszyklusphasen eines Gebäudes an. www.ait.ac.at/energy
Mehr über das AIT:
Klemens Marx wird auf dem Immobilientag am 5 Mai noch mehr über aktuelle Entwicklungen bringen