Von Industriebrachen bis zu alten Garagen lässt sich alles reanimieren – sofern man es mit Mut und Leidenschaft tut

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Christian Kircher, Geschäftsführer von smartvoll Architekten ZT KG spricht im Interview anlässlich der Einreichung zum GBB-Award über Notwendigkeit und Vorteile von "adaptive reuse" und wie beim Projekt Handelszentrum 16 in Bergheim bestehende Ressourcen in vielfältiger Form reaktiviert wurden.

Alexander Ghezzo: Sie haben zum GBB Award eingereicht. Bitte beschreiben Sie uns Ihr Projekt.

Christian Kircher: Es braucht neue Strategien für die sinnvolle Nachnutzung bereits versiegelter industrieller Flächen, die ihre ursprüngliche Nutzung verloren haben. Ein Ansatz dafür ist „adaptive reuse“, welcher dem Grundsatz folgt, den Bestand umzunutzen und etwaige Nachteile in Vorteile zu verwandeln, anstatt die bestehenden Gebäude abzureißen. Ein Pionierprojekt, dass diesem Ansatz zu Grunde liegt, ist das Handelszentrum 16 in Bergheim. „Statt neue Ressourcen zu verbrauchen, werden bestehende Ressourcen reaktiviert. Im Handelszentrum sind 65.000 Tonnen Stahlbeton als graue Energie gespeichert, bei deren Herstellung über 8.600 Tonnen CO2 in die Atmosphäre emittiert wurden“, erklärt Christian Kircher, Geschäftsführer bei smartvoll Architekten ZT KG. Stattdessen wurde der Bestand umgebaut, um das volle Potential für eine vielfältige Nutzung, etwa für Büroräume, Gastronomie, Sportstätten und produzierende Unternehmen, auszuschöpfen. Dadurch werden neue Lebensräume mit geringem Materialaufwand und mit geringerer Umweltbelastung geschaffen. Um solche Projekte in Zukunft zu forcieren, ist jedoch die Zusammenarbeit relevanter Akteur:innen, wie Architekturbüros, Bauherren, Baufirmen aber auch politische Entscheidungsträger:innen, gefragt. Wir hoffen stark, dass unser Projekt nur der Anfang ist. Denn entwickelt ein erstes Pionierprojekt genug Gravitation, ziehen andere nach. So kann das Adaptieren eines Komplexes nach und nach auch zur großräumigeren und nachhaltigen Entwicklung des gesamten Areals beitragen.

Smartvoll Architekten setzen sich in ihrer Arbeit seit Jahren intensiv mit dem Thema adpative reuse auseinander. In vielfältigen Projekten haben sie gezeigt, dass sich von Industriebrachen über Wohnhäuser bis zu alten Garagen alles reanimieren lässt – sofern man es mit Mut und Leidenschaft tut.

Alexander Ghezzo: Die Jury hat sich dabei besonders die 6 Umweltziele der EU-Taxonomie vorgenommen - wie spiegeln sich diese in Ihrem Projekt wider?
  • Klimaschutz
  • Anpassung an den Klimawandel
  • Nachhaltige Nutzung und Schutz von Wasser- und Meeresressourcen
  • Übergang zu einer Kreislaufwirtschaft
  • Vermeidung und Verminderung der Umweltverschmutzung
  • Schutz und Wiederherstellung der Biodiversität und der Ökosysteme

Christian Kircher: Zur Schonung unserer Umwelt, unserer Ressource und unseres Bodens gibt es in unserem Sektor zwei große Gegengifte: Leerstandaktivierung und Nachverdichtung. In diesem Projekt wurden beide Strategien vereint. Allein die Entscheidung das Gebäude nicht abzubrechen, hat 0,5% des jährlichen Volumens der österreichischen Bau- und Abbruchabfälle eingespart (ca. 20% des gesamten Abfallaufkommens und 3x so viel wie der Hausmüll, zu dem wir den größten Bezug haben). Aktiviert man 200 solcher Projekte pro Jahr – und Leerstand gibt es im Industriebrachenbereich genug – könnten die das Abfalljahr in diesem Sektor mit einer schwarzen Null beenden. Im Handelszentrum 16 sind über 75000 Tonnen Beton verbaut. Auch die Sekundäreffekte des Abbruchs wie z.B. der Transport zum nächsten Recyclinghof sind beachtlich. Hätten wir das Gebäude abgebrochen, hätte ein Mulden LKW über 80000 km zurückgelegt, um all den Abbruchabfall zu deponieren.

Spätestens wenn man sich vor Augen führt, dass bei der Erzeugung dieser Betonmenge 8760 Tonnen CO2 freigesetzt wurden, wofür 80ha Wald 80 Jahre rackern müssen, um diese Co2 Menge wieder zu binden, wird klar, wie sinnvoll es ist, leerstehende Gebäude zu aktivieren und nicht erneut Ressourcen und Boden in Form von Neubauten auf grünen Wiesen zu verschwenden. Abgesehen von den ökologischen Effekten, die die Aktivierung von leerstehenden Industriebrachen mit sich bringt, geht es auch um die Lebendigkeit und Vitalität von Quartieren und allgemein unserer Gesellschaft. Haben Ende der 90er noch 260 Menschen in diesem Gebäude gearbeitet, waren es über 15 Jahre fast Zero. Ab 2024 im Endausbau werden dann 600 Menschen auf dem Areal arbeiten und damit einen Teil von Bergheim und damit verbunden auch die Wirtschaft beleben.

Alexander Ghezzo: Wo steckt Innovation, bzw. das Einzigartige in Ihrem Projekt?

Christian Kircher: Die Innovation steckt sicher im Prozess- und Belebungskonzept und generell in der neuartigen konzeptuellen und planerischen Herangehensweise an solche Projekte. Prinzipiell steckt der Themenkreis „Adaptive Reuse“, also die Wiederbelebung von brach liegenden Gebäuden und die Zuführung einer Nutzung, für das der jeweilige Bestand ursprünglich nicht vorgesehen war, nach wie vor in den Kinderschuhen. Das liegt vor allem daran, dass unsere gesamte Planungspraxis auf klassischen, chronologischen Ablaufmodellen beruht, die vor allem im Neubau zu einem effizienten und wirtschaftlichen Ablauf führen. Will man aber leerstehende Gebäude zurück ins Leben defibrillieren, muss man sich von linearen und chronologischen Modellen zu parallelen Instrumenten bewegen. Im HZ 16 wurde die innenliegende dunkle Erdgeschosszone sofort als Lager vermietet. Damit waren die Fix- und Zinskosten gedeckt und das Entwicklerteam konnte sich in Ruhe der Konzeptphase widmen. Und während die ersten Mieter:innen schon eingezogen waren, wurde an anderen Ecken noch intensiv gebaut. Einerseits muss man ein bisschen Struktur vorlegen, um Leute anzuziehen, andererseits kann man in vorgelagerten sozialen Prozessen Interessenten auch die Räume lesen lassen. Beispielsweise sind im letzten Kellerwinkel, bei dem wir nicht mehr gewusst haben, was wir mit ihm machen sollen, Garnelenzüchter eingezogen, die die Abwärme der großen Hallen nutzen, um ihre Wasserbecken zu wärmen. Wir wussten nicht mehr, was wir mit dem Raum anfangen sollten, aber die Nutzer:innen wissen es oft. In diesem Sinne müssen wir uns auch von der Chronologie verabschieden, die Nutzung von Projekten a priori festzulegen und dann die gesamte Projektstruktur auf dieses Ziel auszulegen. Dementsprechend wichtig ist, dass man nutzungsoffen, flexibel und adaptierbar plant und konzipiert. Das rüstet für dynamische gesellschaftliche Veränderungen und erhöht nebenbei die Nutzungsdauer von Gebäuden gewaltig, mit allen begleitenden ökologischen Implikationen. Der Paradigmenwechsel von einer linearen, chronologischen und deterministischen Planungspraxis auf eine dynamisch, parallel adaptive scheint vor den gegenwärtigen Herausforderungen alternativlos und dieses Projekt ist ein gelebtes Beispiel für diese Praxis.

Fotos mit freundlicher Genehmigung von smartvoll Architekten ZT KG.

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